Mario Tamponi Zurück
Willy Brandt – zehn Monate vor und zwei Monate nach dem Mauerfall von Berlin
Zwei Inteviews von Mario Tamponi (Dezember 1988 und Januar 1990) Willy Brandt ist einer der herausragendsten Politiker der deutschen Nachkriegszeit und weltweit wohl der am meisten bewunderte und geschätzte. Bundeskanzler von 1969 bis 1974, Erfinder der Ostpolitik, führender Kopf der SPD und der Sozialistischen Internationale, Friedensnobelpreisträger (1971). Zehn Monate vor dem Mauerfall und zwei Monate danach befragte ich ihn im Berliner Reichstag nach der „deutschen Frage“ und der Zukunft Europas. Heute, dreißig Jahre später, ist die Welt eine andere, aber angesichts der neuen internationalen Konflikte wäre eine Rückkehr zur solidarischen Gesinnung von Willy Brandt alles andere als anachronistisch. _____________________ Zehn Monate vor dem Mauerfall: „Von Wiedervereinigung kann keine Rede sein!“
Dezember 1988 Könnte das Fernziel der Wiedervereinigung Deutschlands, mit dem sich Länder wie Frankreich, England oder Italien nie sonderlich anfreunden mochten, in der Perspektive eines vereinten (und damit fester eingebundenen), dem Osten zugewandten Europas nicht realistischer und auf alle Fälle weniger riskant werden? Welchen Stellenwert hat die „deutsche Frage“ in der gegenwärtigen Geschichtsphase? Willy Brandt: Ich habe Schwierigkeiten, über „Wiedervereinigung“ zu sprechen. Das ist nicht nur ein terminologischer, sondern auch ein geschichtlicher und politischer Irrtum. Es gibt kein „Wieder“, kein Zurückführen der deutschen Frage auf einen bestimmten Bezugspunkt hin. Nichts wird wieder, wie es einmal war; es gibt keine Rückkehr zu Bismarcks Reich. Aber eines ist gleich geblieben seit dem vorigen Jahrhundert – die Frage, wie die Deutschen ein Verhältnis zueinander aufbauen können. Ob sie in einem Staat leben oder in einer Konföderation oder in einer anderen geordneten Form des Zusammenlebens, wird geschichtlich und zukünftig nicht nur durch die Deutschen, sondern auch durch ihre Nachbarn entschieden. Das ergibt sich aus der geographischen Lage Deutschlands, aus den geschichtlichen Zusammenhängen.
Wenn die Teile Europas in Ost und West einst sehr viel mehr zusammenwachsen, als wir heute zu erkennen in der Lage sind, dann kann es in einer so veränderten Welt, vielleicht Anfang des nächsten Jahrhunderts, viel leichter werden, daß die beiden Teile Deutschlands auf den Gebieten, auf denen sie mehr gemeinsam haben als andere Staaten – Sprache, Kultur etc. –, ein neues Verhältnis zueinander aufbauen. Aber ob dieses Verhältnis die Form eines Nationalstaates annimmt oder föderative und konföderative Strukturen haben wird, ist eine Frage, die ich offen lasse. Damit will ich andeuten, daß die Hemmungen und Bedenken wichtiger europäischer Partner abnehmen können, wenn sich auch die Sicherheitsproblematik im gesamteuropäischen Rahmen anders stellt. Das ist eine Frage der Zeit. Und wovon hängt die Geschwindigkeit dieser Entwicklung vor allem ab? Willy Brandt: Ein entscheidender, in jedem Fall ganz wichtiger Faktor ist natürlich die Frage, ob sich der Reformprozeß, der sich in der Sowjetunion ergeben hat, ohne große Schwankungen entwickelt. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es eher ein Auf und Ab geben wird als eine gleichmäßige Entwicklung. Ich wünsche Gorbatschow jeden möglichen Erfolg, aber ich glaube, es wäre ganz unrealistisch zu vermuten, daß es bei diesem gewaltigen Reformvorhaben nicht auch Rückschläge gibt. Ganz zu schweigen davon, daß sich zusätzlich innerhalb des sowjetischen Machtbereichs differenzierende Entwicklungen ergeben werden. Deshalb sind eine gewisse Skepsis und Vorsicht geboten. Bedeutet die Tatsache, daß die Bundesrepublik, Frankreich und Italien heute eine ähnliche oder zumindest übereinstimmende Ostpolitik betreiben, daß das Europa des Binnenmarktes bereits ein gemeinsames politisches und wirtschaftliches Projekt gegenüber der Sowjetunion und dem Osten Europas besitzt? Willy Brandt: Ich glaube, man kann noch nicht von einer wirklich in sich geschlossenen, gemeinsamen gesamteuropäischen Position bzw. außenpolitischen Konzeption sprechen. Aber man hat große Fortschritte gemacht, und, wie Sie zu Recht sagen, haben sich unter diesen drei Ländern der Gemeinschaft – Italien, Frankreich und Deutschland – die Standpunkte stark aneinander angenähert. Das ist, glaube ich, eine gute Basis nicht nur für das allgemeine Verhältnis zum Comecon, sondern auch für die spezifischen Fragen, die sich im Verhältnis zu einzelnen Ländern des Warschauer Pakts und zur Sowjetunion ergeben. Wir haben gute Fortschritte gemacht, aber wir sind noch nicht am Ende des Wegs. Die einzelnen Initiativen von heute unter im Vergleich zu noch vor wenigen Jahren erheblich verbesserten Rahmenbedingungen werden um so fruchtbarer sein, wenn sie ohne Vorurteile und falsche Emotionen von einer historischen Projektion untermauert werden. Noch bis vor wenigen Jahren konnte die sogenannte deutsch-französische „Achse“ Eifersuchtsreaktionen, zum Beispiel von italienischer Seite, provozieren. Aus heutiger Sicht müßte man sie wohl eher als positiven, wenn nicht gar für den Aufschwung Europas notwendigen Faktor bewerten. Teilen Sie diese Ansicht?
Willy Brandt: Wie die Erfahrung gezeigt hat, waren die Befürchtungen, daß die Deutschen und die Franzosen durch ihre Zusammenarbeit etwas monopolisieren wollten, nicht berechtigt. Heute ist deutlich, daß sich die Schiene Paris-Bonn / Bonn-Paris letztlich in den Dienst der ganzen Gemeinschaft gestellt hat. Ich hoffe sehr, daß dieser Prozeß weitergeht. Die neue Form der Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland, vorangetrieben durch herausragende politische Initiativen von Schmidt bis Giscard, aber auch schon früher, ist Ergebnis der besonderen geschichtlichen, geographischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern. Man sagt, der „92er Zug“ sei ein Hochgeschwindigkeitszug, für den es keine Rückfahrkarten gebe. Verpaßt man seine Abfahrt, könnten sich die Bedingungen für die Zukunft so verschieben, daß die Unterschiede kaum noch behebbar sind. Ist das wirklich so? Willy Brandt: Ich würde eher sagen, man kann nicht sicher sein, daß bis Ende 1992 all das geschafft wird, was auf dem Programm steht: Dabei denke ich vor allem an die währungspolitische Zusammenarbeit. In dieser Hinsicht ist das Programm allerdings auch vorsichtig formuliert. Einige Mitgliedstaaten der Gemeinschaft wollen nicht nur das bestehende europäische Währungssystem ausbauen, sondern sogar eine gemeinsame europäische Zentralbank errichten. Dies wird mit Sicherheit nicht bis Ende 1992 zu erreichen sein: Nach aller Erfahrung, die wir bisher gemacht haben, wird sich der Zeitplan noch verzögern. Mit Sicherheit hingegen wird man bis Ende 1992 die eigentliche Dimension des Binnenmarktes ermessen können. Es handelt sich um ein einschneidendes Ereignis, das einen unumkehrbaren Prozeß in Gang setzt. Sicherlich besteigen nicht alle Länder der Gemeinschaft diesen Zug unter idealen Bedingungen, so daß es notwendig ist, soweit wie irgend möglich gleiche Voraussetzungen für alle Staaten zu schaffen. Könnten doch die anfänglichen Vorurteile der einen gegenüber den anderen auf Dauer Ungleichgewichte provozieren, die die harmonische Entwicklung der gesamten Gemeinschaft stören. Könnte die europäische Integration auf Parteiebene nicht auch dazu führen, daß die Orientierungsmodelle vereinheitlicht und in Italien – aber auch anderswo – die Sozialdemokratisierung der gesamten Linken begünstigt werden? Willy Brandt: Für Italien ist diese Frage praktisch gleichbedeutend mit der nach der Entwicklung der Kommunistischen Partei (PCI). Ein Problem, das übrigens aus italienischer Sicht leichter zu verstehen ist, als wenn man andernorts in Europa lebt. Ich habe mit Interesse bemerkt, daß die PCI im Europäischen Parlament und in anderen Gremien schon seit einer Reihe von Jahren den Positionen sehr nahesteht, die in anderen Ländern Sozialisten und Sozialdemokraten vertreten. Ein an sich positiver Prozeß, der der Gemeinschaft insgesamt zugute kommt. Davon abgesehen kann der Lauf der Dinge nicht sonderlich beschleunigt werden. Im übrigen sollten Sozialisten und Sozialdemokraten den Bürgern in den Ländern der Gemeinschaft kein Konzept eines sozialistischen, sondern eines pluralistischen Europas offerieren – mit möglichst starkem demokratisch- sozialistischem Inhalt. Ich war stets dagegen, ein christdemokratisches oder konservatives Europa zu schaffen, aber so wie in unseren eigenen Ländern müssen wir auch in Europa
Ja zum Pluralismus sagen. Und alles, was in der weiteren Entwicklung die Basis des demokratischen Sozialismus erweitern kann – auch aus Kräften, die ursprünglich nicht auf diesem Boden standen –, kann nur begrüßt und von den Sozialisten und Sozialdemokraten Europas unterstützt werden. Gibt es bereits ein inhaltlich und technisch ausgereiftes Europaprogramm von sozialistischer Seite, um den europäischen Binnenmarkt so zu steuern, daß die regionalen und sozialen Ungleichgewichte nicht weiter verschärft und die Arbeitslosigkeit wirksam reduziert werden? Willy Brandt: In der Koordinierung der Auffassungen sind wir wesentlich weiter als vor drei Jahren, haben aber inhaltlich noch eine Menge zu tun – vor allen Dingen, was die soziale Dimension, von der Beschäftigungspolitik bis hin zur sozialen Sicherung und den sozialen Rechten, anbetrifft. Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht, verfügen aber noch nicht über eine wirklich überzeugende, gemeinsame Konzeption. Das heißt, wir müssen leider einräumen, daß wir bei weitem noch nicht an dem Punkt sind, an dem wir eigentlich sein sollten. Es ist eine Tatsache, daß die wirtschaftlichen Initiativen schneller vonstatten gehen als die politischen und sozialen, und deshalb müssen wir die Ärmel hochkrempeln und unermüdlich arbeiten. Sonst wird man gerade am Anfang nur schwer die Risiken regionaler und sozialer Ungleichgewichte bannen können, die eine schrankenlose Liberalisierung notwendig mit sich bringt. ________________________ Zwei Monate nach dem Mauerfall: „Wer Angst vor den Deutschen hat, sollte Europa stärken!“
Januar 1990 Einige behaupten, die gegenwärtige Revolution im Osten habe die Grundsätze Ihrer früheren
Ostpolitik
zum Teil aus den Angeln gehoben. Was ist Ihre Einstellung dazu? Willy Brandt: Das genaue Gegenteil! Ich bin überzeugt, daß gerade die Ostpolitik ihren Teil dazu beigetragen hat, einige der gegenwärtig günstigen Bedingungen zu schaffen. Kleine Schritte sind mehr wert als große Worte. Und unsere kleinen Schritte, mitsamt der Vereinbarungen und Verträge, die darauf folgten, haben dazu gedient, den familiären und sozialen Zusammenhalt der deutschen Nation diesseits und jenseits der Mauer zu stärken. Aber dies haben unsere Landsleute, die die Erleichterungen konkret erlebt haben, durchaus verstanden. Sicher, das Tempo und die Friedfertigkeit, mit der sich die Ereignisse im Osten abgespielt haben, überraschten uns alle und stellen uns jetzt plötzlich vor neue Konditionen und
Aufgaben. Dennoch richtet sich mein Beitrag zu dem gegenwärtig laufenden Prozeß auf Kontinuität. Worum es vor allem gehen muß, ist, den provisorischen Zustand zu überwinden und den Rechtsstaat zu konsolidieren. Der Haupttermin ist dabei der der freien Wahlen im Mai, die wir in der Hoffnung, daß irrationale Phänomene und Formen der Gewalt vermieden werden, unterstützen müssen, ohne uns dabei einzumischen. Die Bundesrepublik sollte sich zunächst darauf beschränken, dem anderen deutschen Staat eine breite wirtschaftliche und ökologische Zusammenarbeit anzubieten. Die deutsche Einheit wird von unten her weiter heranwachsen und politisch einen ihr gemäßen demokratischen Ausdruck finden. Der 10-Punkte-Katalog von Bundeskanzler Kohl eines in Etappen zu realisierenden vereinten Deutschland stieß international auf zum Teil erheblichen Widerstand, bei Ihnen allerdings nicht. Wieso? Willy Brandt: Eigentlich kann ich gegen die zehn Punkte von Bundeskanzler Kohl nichts haben. Wenn, dann müßte ich sagen, daß sie Selbstverständliches enthalten – so Selbstverständliches, daß mich die internationale Aufmerksamkeit, die sie erweckt haben, erstaunt. Ich habe nichts gegen gewisse konföderative und föderative Formeln, die ja etwas ganz anderes sind als das, was einige „Wiedervereinigung“ nennen. Ein Wort, demgegenüber ich seit je ziemlich allergisch bin. Nichts wird wieder, wie es war. Das Grundgesetz selbst spricht nicht von „Wiedervereinigung“, sondern von Selbstbestimmung, von Einheit in Freiheit und von Europa. Wir müssen helfen, daß zusammenwächst, was zusammengehört, ohne die Geschichte beugen zu wollen. Und mit größerem Vertrauen auf den Geist der Demokratie, der das Prinzip von Stabilität und Frieden ist. Im übrigen ist es heute schwer, exakt vorherzusagen, was morgen sein wird. Gerade deshalb müssen wir vermeiden, die Ochsen hinter den Pflug der Geschichte zu spannen. Alle erkennen den Deutschen das Recht auf Einheit zu, dennoch haben viele in Europa eine gewisse Angst vor dem „Großen Deutschland“. Ist diese Angst Ihrer Meinung nach gerechtfertigt? Willy Brandt: Alle, oder fast alle, stimmen in der Aussage überein, daß die deutsche Frage im Rahmen der europäischen Integration gelöst werden muß. Auf der anderen Seite läuft der Prozeß im Osten und in Deutschland, mit dem Wind der Geschichte im Rücken, schneller als der der Zwölfergemeinschaft. Meiner Meinung nach muß man den europäischen Prozeß beschleunigen und nicht den deutschen künstlich verlangsamen. Wer Angst hat vor den Deutschen, sollte sich verstärkt dafür einsetzen, Europa gemeinsam mit den Deutschen stark zu machen. Wer Angst hat vor der DM, sollte dazu beitragen, den ECU stark zu machen. Heute ist zum Beispiel ein Schwanken angesichts des Ziels der Europäischen Währungsunion nicht länger möglich. Für die neuen Generationen, 45 Jahre nach Ende des Krieges, taugt die Kategorie Sieger- Besiegte nicht mehr. Die jungen Deutschen wollen ebenso wie die jungen Leute anderer Länder auch Frieden und Freiheit. Sie empfinden keine – und wie könnten sie – eigene
große historische Schuld, die durch eine zeitlos verordnete Spaltung zu tilgen wäre. Man muß Vertrauen haben zum demokratischen Geist, wenn dieser im Volk, von unten her entsteht. Ein übertriebenes Mißtrauen von außen weckt Mißtrauen gegenüber außen und provoziert eine nationalistische Abkapslung – ein Übel, das heute gerade umgangen werden sollte. Deutschland und Europa öffnen sich heute vor ein paar Jahren noch ungeahnte Chancen. Mit welchen Auswirkungen auf die globalen Probleme der Welt? Willy Brandt: Vor allem auf dem südlichen Teil unseres Planeten fürchtet man, daß sich die Europäer – und die Deutschen in Europa – jetzt auf die neuen Aufgaben und die faszinierenden Perspektiven in der Mitte bzw. im Osten ihres Kontinents stürzen und dabei die globalen Probleme der Welt aus den Augen verlieren: die chronische Unterentwicklung in der Dritten Welt, den Hunger, die Bedrohung der natürlichen Umwelt... Und gerade dieser Gefahr muß entgegengetreten werden. Die europäischen Perspektiven für Frieden und internationale Solidarität dürfen wir nicht einem nationalen oder gar nationalistischen Zeitgeist opfern. Interviews von Mario Tamponi (veröffentlicht in Incontri und in internationalen Publikationen)