Mario Tamponi Zurück
Ich rede, also bin ich Das einverleibte Mikrofon Auch wenn er sich an wenige oder nur an eine einzige Person wendet, spricht Federico immer ins Mikrofon. Er trägt es in Kinnhöhe als starren elektronischen Vorbau, fest an den Hals gebunden mit einer elastischen Binde. Immer sind es viele, die alles hören können, was er zu sagen hat, egal, ob als politisch engagierter Redner, in Geschäftsbesprechungen oder im intimen Liebesgeflüster. Sogar in der vertrauten Abgeschlossenheit eines Zimmers durchdringt jedes seiner Worte Räume und Mauerritzen des gesamten Gebäudes. Reden, offensichtlich um gehört zu werden, bedeutet für Federico existieren; wenn er nicht redete, hätte er das verwirrende Empfinden des Gegenteils und spürte alles, sich selbst eingeschlossen, in der atemberaubenden Leichtigkeit des Windes dahinschwinden. „Auch für euch mache ich das!“, versichert er den Anwesenden, die zum ununterbrochenen Zuhören gezwungen sind. „Wenn ich nicht redete, verschwändet ihr mit mir!“ Jenen gegenüber, die ihm Egozentrik vorwerfen, wird er nicht müde zu betonen, was die Beständigeren unter seinen Zuhörern längst als seine wiederkehrende Litanei erkannt haben: „Ich bin kein Objekt, und jedes Ich, welches aus falsch verstandener Bescheidenheit darauf verzichtete, sein eigener Mittelpunkt zu sein, verleugnete seine wahre Natur.“ „Wahrhaftig! Du bist nicht das einzige Ich dieser Welt!“, schlagen seine Gegner zurück. „Die anderen können“, beharrt er, „ein solches für mich nur werden, wenn ich zustimme, sie in mein Bewusstsein vorzulassen.“ So scheint das Schicksal der ganzen Menschheit in Federicos Händen zu liegen, und unablässig in sein Mikrofon redend ist er überzeugt davon, eine hoch schöpferische, universelle, ja soziale Tätigkeit auszuüben. Bis auf neunzig Meter Entfernung hören ihn Menschen mit durchschnittlichem Gehör, auf hundertdreißig Meter die Feinsinnigeren, weiter als hundertsiebzig Meter wird seine Stimme zu einem diffusen Rauschen, welches jedoch für die Neugierigen und Abergläubischen Einladung scheint, sich ihm zu nähern, um ihn zu verstehen. Somit bleibt es den anderen vorbehalten, ob sie entscheiden, in die Welt des Seins, Federicos Seins, einzutreten, oder sich damit zufrieden geben, in der Vorhölle des Vagen zu vegetieren. Denjenigen, die ihn mit dem Vorwurf des Narzissmus attackieren, entgegnet er, dass ein Ich Narziss sein muss:„Narzissmus ist Lebensfreude und Lust, andere zum Leben zu erwecken.“ Dieser wahre Narziss ist auch praktizierender Katholik und nimmt sein einverleibtes Mikrofon nicht einmal ab, wenn er eine Kirche betritt; und dort ist er der eigentliche Mittelpunkt. Seine Stimme überlagert sich mit der des Priesters, der ihn auffordert, während der Messe in die Nähe des Altars zu kommen, damit er selbst sich nicht als zu nebensächlich empfindet. Wenn Federico manchmal, sei es aus Bescheidenheit oder Trägheit, diesem Drängen Widerstand leistet, resigniert der Zelebrierende und nähert sich ihm mitsamt Altar, der vorausschauend mit Rädern ausgestattet wurde und daher beweglich ist. Problematischer wird es, wenn Federico in einer nicht ganz leeren oder schlimmer noch in einer überfüllten Kapelle beichten geht. Selbst vor dem Beichtgitter verzichtet er nicht auf die elektronische Verstärkung, und so nehmen alle Gläubigen an der Aufzählung seiner Sünden teil; und der Priester mit seinem vom Licht, das durch die metallene Trennwand fällt, durchlöcherten Antlitz fühlt sich als bedeutungsloser Statist. Es ist der Beichtvater, der in Verlegenheit gerät, nicht der Beichtende selbst, der unverblümt und ohne Scheu alle seine Sünden offen legt. Federico erkennt sich selbst als Sünder, den größten überhaupt – so, wie es das Ritual vorschreibt; tatsächlich stellt er die Sünden so eindringlich heraus, dass man zweifelt, ob wirklich er es ist, der Gott um Verzeihung bittet oder nicht eher umgekehrt. Wenn er sich nach der Absolution vom Beichtstuhl, überragt vom leidenden Kruzifix, langsam entfernt, ist sein Gesicht erschöpft vom eigenen Monolog, dem er sich, den anderen mit dem Rücken zugewandt, hat unterziehen müssen, wofür ihn jedoch der Heiligenschein eines Märtyrers entschädigt, von dem man nicht weiß, wann genau sich dieser auf sein Haupt niedergelassen hat. Der Priester entsteigt dem gleichen Beichtstuhl so spät wie möglich, wenn sich die Reihen der Zeugen der öffentlichen Reinigung schmutziger Wäsche gelichtet haben und er sich unauffällig, auf leisen Sohlen ihren mitleidlosen Blicken entziehen kann; er fühlt sich verwirrt zwischen dem Zustand, in unerhörte Geschehnisse mit hineingezogen worden zu sein, und seiner Unfähigkeit, die eigene Befremdung darüber zum Ausdruck zu bringen. Federico legt sein Mikrofon auch nicht ab, wenn er ins Bett geht oder unter die Dusche; in Momenten der Nacktheit, der Intimität oder des Schlafs darauf zu verzichten, wäre, wie in einem verdächtigen Schlupfwinkel oder in einem Nest skrupelloser Banditen die Waffen zu strecken. Er kann sich leisten zu schlafen oder sich zu zerstreuen, gerade weil die Anlage, die er bei sich trägt, für ihn wacht; wenn Menschen sich ihm nähern, nimmt er diese mittels der Hochempfindlichkeit der Infrarotstrahlen und Infrarotsensoren wahr, die ihn wie ein Gong zurückrufen in die bewusste Existenz, zum Wort eben. Im Übrigen würde er es sich nicht einmal im Schlaf erlauben, dass sich die Worte beunruhigender oder angenehmer Träume ins Nichts verlieren. Als Jurastudent hatte sich Federico eine Rhetorik angeeignet, mit der er alles und jedes und das Gegenteil davon glaubhaft machen konnte. Von der Kunst der Forensik wechselte er zur Kunst der Werbung, um Millionen Leute zu überzeugen, dass sie mit dem Waschmittel „Weißer als weiß“, dem Bonbon „Der Atem aus Wald und Meer fürs Gehirn“, dem Tampon „Erotisch auch beim Zyklus“, der Bank oder Versicherung, die sich „exklusiv um die Interessen Ihrer Ersparnisse kümmert“, alle Probleme lösen können. Um sein Monatsgehalt aufzubessern, betätigte er sich auch als Politiker mit der Fähigkeit, seine Gegner und das Volk verstummen zu lassen, indem er sie mit Konjunktionen und Interjektionen überflutete und ihnen anschließend sofort den Rettungsring zuwarf, um nicht selbst in deren Sog zu geraten. Eines Tages wird Federico wegen eines Schlaganfalls als Notfall in die Abteilung Cicero der neurologischen Klinik Napoleon eingeliefert; eine leichte Gehirnblutung reduzierte ihm den klaren Verstand und löste Schwindelgefühle und Brechreiz aus, die sich besorgniserregend auf seine Sprache auswirken. Um das ausgeströmte Blut zu beseitigen und die Gefäße des betroffenen Gehirnlappens zu schmieren, will ihn der Chefarzt Alessandrini persönlich operieren, eine Kapazität in der Erforschung der wechselseitigen Abhängigkeit von Bewusstsein-Intelligenz-Sprache. In der Tat ist er daran interessiert, in den tiefen Windungen des Gehirns eines ungewöhnlichen Patienten herumzuschnüffeln. „Herr Federico, alles ist gut gegangen und Sie sind außer Gefahr“, sagt er nach dessen Aufwachen aus der Narkose, während er mit Sorgfalt den elektronischen Apparat wieder an ihm befestigt. Federico hatte sich kurz vor dem Eingriff davon trennen müssen und dabei gelitten wie bei der Verkündigung eines Todesurteils. Um ihn zu trösten, hatte Professor Alessandrini ihm zugesichert, an seiner Stelle während der Operation ununterbrochen ins Mikrofon zu sprechen. Jetzt will der Chefarzt einen identischen Apparat für sich selbst besorgen, denn er fand Gefallen daran und fühlt, dass er nicht mehr darauf verzichten kann. In den Tagen der Genesung entdecken die beiden – Patient und Arzt –, wie sehr sie sich gleich geworden sind und dass sie sich aus dem Weg gehen müssen, um nicht in verbale Kollision zu geraten. Ihre Freundschaft ist vertraut und tiefgehend, aber auf Distanz, denn jeglicher Kurzschluss aufgrund einer Überlagerung könnte diese sprengen. Mario Tamponi