Mario Tamponi Zurück

Der Lärm der Großstadt

…die Ameisen und die Philosophie der Stille

Wie der Herzschlag und der Atem. Die Stadt war ihm zu Kopf gestiegen. Abel lebte im zweiten Stock eines Wohnhauses an einer der Hauptverkehrsadern. In Rekordgeschwindigkeit hatte er sich an das Getöse der Musik und der jungen Leute unten aus der Sportbar gewöhnt, an das Gekeife bis in den frühen Morgen von Prostituierten und Zuhältern vom Gehweg. Er hatte sich abgefunden mit den voll aufgedrehten Fernsehern der Nachbarn, mit dem Hundegekläff aus der Wohnung nebenan, mit den Streitereien des über ihm lebenden Paares, die fast immer in schrecklichem Geheul und fliegenden Gläsern und Geschirr endeten. Wie eine Naturplage hatte er auch das Zischen der U-Bahn aus den Eingeweiden der Erde akzeptiert, die in regelmäßigen Abständen Möbel und Ziergeräte in Vibrationen versetzte; und das Dröhnen der Flugzeuge beim Landeanflug in niedriger Höhe zum nahegelegenen Flughafen. Schwerer war es ihm gefallen, sich mit der Ampel gegenüber und dem durch ihren Farbwechsel dirigierten Verkehr anzufreunden: Autos, die vorbeirasend von der grünen Welle profitierten; Autos, deren Reifen beim Bremsen kurz vor einem Beinahzusammenstoß aufquietschten; Autos, die per Kavalierstart anscheinend die verlorene Zeit wieder aufholen wollten. Ein ähnliches Höllenspektakel hatte er nur auf Kfz- oder Reifen-Teststrecken und bei Formel 1-Testfahrten erlebt. Mit der Zeit aber verankerte sich auch dieser Krach in seiner Psyche. Wie der Herzschlag, das Atmen, die Gehirnströme. Die Ampel mitsamt ihrem Verkehr hatte sich zu einem lebenswichtigen Organ Abels entwickelt. Am Schreibtisch arbeitend, nahm er, ohne abgelenkt zu sein, jeden einzelnen Bus, Lastwagen, Kleinwagen wahr, jedes Modell der Extraklasse und jedes ohrenbetäubende Mofa. Das anfängliche Getöse hatte sich im Unterbewusstsein in unterschiedliche Geräusche zerteilt, Fragmenten einer einzigen Sinfonie der Straße und des Lebens gleich. Wenn Abel Urlaub machte, war es, als werde ihm jenes Organ entrissen. Im ruhigen Ferienhaus in den Bergen, weit ab von der Sinfonie, gelang es ihm nicht, sich zu konzentrieren, einen Krimi oder die Sportnachrichten zu lesen, Schlaf zu finden. Zur Schmerzlinderung ließ er rund um die Uhr in jedem Zimmer, auch im Bad und im Garten, Fernseher mit unterschiedlichen Programmen laufen. Aber sie waren doch nur ein Surrogat und die Höllenqualen schwächten sich bestenfalls ab zu Strafen des Fegefeuers. Zum Glück konnte er nach ein paar Wochen in die Stadt zurückkehren, um sich mit seinem Organ wiederzuvereinen. Und nach ein paar Tagen der Rekonvaleszenz kehrte das Leben wieder zur Normalität zurück. Aber es kam noch schlimmer. Eines Morgens begann die Stadtverwaltung ohne Vorwarnung mit Ausbesserungsarbeiten am Abwasserkanalnetz der Straße, leitete den Verkehr um und setzte die Ampel außer Betrieb. In die Ferne gerückt, klangen die Verkehrsgeräusche weich und einheitlich; und Abel geriet von einer Nervenkrise in die nächste, die er mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln zu lindern suchte. Schnell verlor er auch die Hoffnung, die Bauarbeiten könnten in annehmbarer Zeit beendet sein, und so ließ er in seiner Panik die ganze Wut an der Stadtverwaltung aus, die sich einen Teufel um die Belange der Bürger schere! Vergeblich machte er sich auf die Suche nach einer anderen Wohnung gleicher Charakteristik in Ampelnähe. Aus Verzweiflung entschloss er sich schließlich zu einer völligen Kehrtwende: eine Unterkunft auf dem Land zwecks „Entgiftungskur“. Dies hatte ihm sein behandelnder Arzt mit einer logischen Begründung empfohlen: „Verliert man ein Organ ohne die Möglichkeit, es zu ersetzen, muss man eben versuchen zu überleben, indem man ohne zurechtkommt!“ Sich dabei auch von allen anderen Geräuschen der Stadt trennen zu müssen, kam allerdings einer völligen Kastration gleich. Resigniert, wie er war, ergab er sich seinem Schicksal. Inmitten der Unberührtheit der Natur. Dank seiner Spezialisierung in kinetischer Biologie brachte der Umzug zumindest keine beruflichen Probleme mit sich. Im Gegenteil. In den letzten acht Jahren hatte er sich dem Studium der Hinterbeingelenke der Araberameise gewidmet. Seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema enthielten interessante Anregungen für die Entwicklung von künstlichen Gelenken, für die Roboterindustrie und sogar für die militärische Luftfahrttechnik. Auf dem Land würde ihm das Vorhandensein anderer Ameisenarten sogar eine Erweiterung seines Forschungshorizonts über die Maßen erlauben. Die neue Bleibe war ein kleines Haus mitten in der Unberührtheit der Natur, auf einer wilden Wiese am Rand eines überwiegend aus Birken bestehenden Waldes. Die schlanken Bäume mit ihrer Silberrinde und den herabhängenden Zweigen wirkten beruhigend wie treue Wächter; ihre Kuppel aus spitz zulaufenden, gesägten Blättern vereinte sie unter einer einzigen Krone zu einem gewaltigen Igel. Um das nächstgelegene Dorf zu erreichen, brauchte Abel kein Auto; für Vorräte und Serviceleistungen jeder Art gab es fliegende Händler, die hin und wieder vorbeikamen. Als er seine Ameisenstudien wiederaufnahm und dabei die arabische mit der kongolesischen Art verglich, die zusammen mit dem Efeu die Mauerumrandung erklommen hatten, hatte er sich ohne Bedenken die Freiheit genommen, seinen Forschungsschwerpunkt von den Beinen auf die Vibrationen des Abdomens zu verlagern. Und im Lärm, den dessen Geklopfe auf den Boden und die Reibung der beiden Körpersegmente erzeugten, erkannte er ihre Sprache. Er befestigte ein Stückchen elektrophonischer Membrane an der robusteren kongolesischen Ameise, die er Tom nannte, und per Antenne und Verstärker holte er sich so ein den afrikanischen Riten ähnliches Tamtam ins Haus. Aber es handelte sich immer noch um einen Monolog. Also befestigte er die Membrane auch an einer anderen mit Tom befreundeten Ameise, die er Tim nannte. Durch den Dialog erkannte er, wie differenziert und ausgeklügelt die scheinbaren Trommelschläge waren: die je nachdem langen oder kurzen Vibrationen, die melodischen oder metallischen Tonarten, die breite Palette von Tönen und Pausen, intervallartig, einem Schlagabtausch gleich. Da waren nicht nur Signale und Rufe, sondern auch Fragen und Kommentare – Ausdruck von Überraschung, Ungeduld, Zorn, Trost, Spaß. Nur selten war Tim der Gesprächspartner von Tom – meistens waren es Gruppen oder die ganze Gemeinschaft. Abel konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er erhöhte die Anzahl der abzuhörenden Ameisen und das Landhäuschen füllte sich mit dem Lärm des Platzes, Tag und Nacht erzeugt auf vielfältigen Pfaden zu und in den Bauten. Mitsamt aller Hintergrundgeräusche: der hierarchischen Befehle rings um die Königin, der Hektik und des unaufhörlichen Hin und Hers, der Kraftakte beim Transport erstaunlicher Gewichte. Zu ihren Stimmen gesellten sich die der Gäste ihrer Nester, der Käfer zum Beispiel, die sich von den Abfällen der Ameisen ernährten und im Austausch gezuckerte Körpersäfte süßer als Honig darboten. Abels Sehnsucht nach der Stadt und dem verlorenen Organ schwächte sich ab. Die anderen Klänge der Natur, die ihm zuvor als Rhythmus der Stille erschienen waren, wurden zu fesselnden Geräuschen. Das Zirpen der Zikaden wirkte kompakt wie von einem im Wald getarnten, zur Schlacht aufgereihten Heer. Dabei war es eine Sache, sie als Truppe zu hören, eine andere, sie in ihrer Individualität zu erfassen und die durch die Reibungen der transparenten Flügel übertragenen Botschaften zu entschlüsseln. An mehreren von ihnen – allesamt männliche Exemplare, die gesprächiger waren – befestigte Abel wie üblich das elektrophonische Membran und holte so ihre Liebesserenaden zur Eroberung der Weibchen ins Haus, ihre schrillen Warnungen vor den zig Eindringlingen in ihr Territorium, ihre gegenseitigen Beschimpfungen, wenn sie es, statt Mann gegen Mann zu kämpfen, als Rivalen lieber auf einen Krieg der Schallwellen ankommen ließen. Unmöglich, sich nicht mit den Vögeln jeder Art und Farbe zu beschäftigen, die ihm mit koketten Schmeicheleien und vielstimmigen Liedern ihre Gesellschaft anboten! Ein paar von ihnen versah Abel mit einem elektronischen Abhörring; sie trugen ihn mit der Eitelkeit von Frauen, die mit saphir- und diamantbesetzten Ohrringen prahlen. Über ihre Sprache drang er in ihre Gefühlswelt ein: als Eltern, Verführer, Liebhaber, Klatschmäuler, Scharlatane. Er hörte das Spektakel in den Nestern, das Geschrei und tiefe Atemholen beim Flug; er hörte ihre auf die Luft prallenden Schwingen, die Aufschreie bei steilen Starts oder Landungen im Sturzflug. Aufschlussreich die gemischten Dialoge: von Finken mit Fröschen, von Nachtschwalben mit Grillen, von Amseln, die sich ins Gezänk von Eidechsen und Schaben einmischten. Zwischen unterschiedlichen Gattungen vereinfachten sich die Töne wie bei Personen anderer Nationalität, die sich radebrechend in der gleichen fremden Sprache verständigen. Abel hatte keine Hunde, Hühner, Kaninchen oder andere Hautiere, mit Ausnahme einer Katze, schwarz wie die Nacht. Ihm reichte die Fauna des Waldes, bizarrer als jede Phantasie. Nicht nur Füchse, Eichhörnchen, Hasen, Igel, Ratten, Kröten, Eidechsen. Auch Fliegen und Mücken, Wespen und Bienen, Apollofalter und Nachtpfauenaugen, Grillen und Libellen, Marien- und Hirschkäfer, Glühwürmchen und Heuschrecken, Pillendreher und Goldrosenkäfer, Küchen- und Waldschaben, Wanzen und Ohrwürmer, Zwergläuse und Hummeln. Dank der erprobten Verstärkertechnik interessierte er sich vor allem für das Gebrumme und Gesäusele, als wolle er sich davon überzeugen, dass überall Lärm sei und man nur die Ohren spitzen müsse, um ihn einzufangen. Seine Ohren gingen wie die seiner Katze in alle Richtungen. Und wenn diese ihre riesigen Ohrmuscheln wie Rezeptoren des Unsichtbaren beharrlich in eine Richtung lenkte, machte er sich auf, die Stimmen dort aufzustöbern. So entdeckte er, dass auch die Flora Lärm erzeugt. Er befestigte Sensoren an den Birken und hörte den Pflanzensaft fließen wie eine Seele, die ernährt und den Durst löscht – vor allem im Frühjahr, kurz vor dem Sprießen der Blätter. Er hörte das Geprassel des Grases und der aufbrechenden Blüten: die Pulsschläge des Wachstums, aber auch die diffuse Sensibilität. Er spürte die Zärtlichkeit der Bäume demjenigen gegenüber, der sie liebt, und den Schock vor dem, der sie verletzt oder fällt. Ja, er merkte, dass die Pflanzen sogar Absichten und Gefühle anderer intuitiv erfassen. All diese Geräusche kombiniert, reproduzierten in Abels Haus eine nicht weniger intensive Polyphonie als die metallischere der Großstadt. Im Tagebuch jener Zeit notierte er: „Man kann dem Lärm nicht entfliehen, nicht einmal per Aufbruch ins All. Weil dort, in Ermangelung anderer Geräusche, das verborgene Pochen von Zellen und Gedanken widerhallen würde wie das Alarmgeläut von Glocken.“ Und als Resümee: „Stille als Fehlen von Geräusch existiert nicht.“ Beim Herausfiltern der Töne hörte Abel auch jene ab, die sein eigenes Gehör erzeugte; und ihre Klangstärke messend, empfand er sie als ohrenbetäubender denn jeden Presslufthammer. Vom Ohr zum Gehirn war nur ein kurzer Schritt und im Gehirn fand er den wahren Sitz von Lärm und Stille. Selbsttests mittels Enzephalogrammen und Konzentrationsübungen offenbarten ihm, dass „Stress und relevante psychische Konflikte entstehen, wenn der front- und linksseitige Bereich über den hinteren rechten dominiert, d.h. wenn die intellektuelle Hyperaktivität des Ichs das intuitive und emotionale Leben unterdrückt – mit anderen Worten, wenn der vom ersten Bereich erzeugte Lärm die Stille des zweiten überlagert.“ Daraus leitete Abel die Notwendigkeit ab, die zerebrale Harmonie zu kultivieren, indem er der Stille dasselbe Bleiberecht zuerkannte wie dem Lärm: „Nur wenn beide zusammenleben, ist es möglich, die Integrität des Menschen und seine Zivilisation selbst zu retten. Eine Zivilisation fällt der Selbstzerstörung anheim, wenn sie mit Lärm die Stille erschlägt, mit Virtuellem das Reale, mit Kultur den Instinkt, mit Intelligenz die Gefühle, mit Bewusstsein die Psyche, mit der Seele den Körper. Den Sinn für den Ursprung und die Wahrnehmung der Grenzen zu verlieren, ist, wie die Orientierung und den Sinn des Daseins zu verlieren.“ Abel hatte sich von seiner Spezialisierung auf die Glieder der Ameisen entfernt. Er überschritt sogar die Grenze zur Philosophie, die ihn zu denselben Schlussfolgerungen führte: „Nur mit der Annahme des Todes im Leben relativieren sich Wettbewerb, Karriere, Erfolg, Effizienz, Prestige, Gerede – allesamt Produkte des tyrannischen Lärms; und im Innern des Lärms breitet sich Stille aus.“ Damit war es für Abel gleichgültig geworden, ob er auf dem Land oder in der Stadt lebte, so dass er sich von seinen Freunden, den Tieren und Pflanzen, verabschiedete und in die Großstadt zurückkehrte. Und in der Großstadt spielte es keine Rolle für ihn, ob er in der Nähe einer Ampel oder lediglich an einem von Menschen wimmelnden Platz wohnte. Seinen Urlaub verbrachte er auf einem Kap mit tosenden Gewässern, dessen bedrohliche Wogen ohne Unterlass zusammenrollten, um an den Felsen in Millionen Kristalle zu zerplatzen. Dort spürte er die Stille des Unendlichen dank der harmonischen Koexistenz beider Gehirnlappen und des nahen Todeshauchs. Für ihn war das Meer die Schwelle zur Transzendenz, das Jenseits, der Schauer, für den allein sich die Mühe des Lebens lohnt. Für andere Urlauber dagegen blieb es ein bloßes Mittel zur physischen Regeneration, ein Geräusch mehr, das sich zu den vielen des Stresses und der Sehnsüchte des alltäglichen Lebens hinzugesellte. Ihre ohrenbetäubenden Radios, ihre Gier nach Bräune, ihr zum Wohnzimmer umgewandelter Strandzipfel waren für die Natur eine Schmach. Abels Einsiedelei lag nicht auf einer wilden, vergessenen Anhöhe, war kein Ort der Klausur: Denn auch Schweigsamkeit kann von mörderischen Geräuschen durchzogen sein! Er trug die Einsiedelei in seinem Innern – in der Stadt wie am Meer, im Straßengewühl wie in der Sandwüste, im Börsenkrawall wie in der frostigen Ruhe der Antarktis. Jünger werden mit der Zeit. Unerwartet verlieren wir Abels Spur, weil einige Seiten aus seinem Tagebuch fehlen. Sechs Jahre später finden wir ihn wieder, glücklich verheiratet mit Alexia und Inhaber des „Jugendlabors“, abgekürzt „JuLab“, ein von ihm mit dem Elan eines geborenen Sozialarbeiters geführtes Unternehmen. Der Bezug zu den Erfahrungen der Vergangenheit war direkt: „Wie der Lärm Gefäß der Stille ist, ist die Zeit Gefäß der wahren Existenz“, behauptete Abel. Und Alexia, die zugleich seine Assistentin war, fügte als Erklärung von Sinn und Zweck hinzu: „Zeit aufzuholen, hat nicht viel Bedeutung für den, der einfach lebt, um zu leben, und schließlich mehr oder weniger resigniert feststellt: Früher oder später musst du ja doch sterben... Von relativer Bedeutung ist es auch für den, der nur mit Blick auf den Beruf, auf die sozialen Beziehungen, auf den Abstand vom Tod jung bleiben oder jünger werden will. Von vitaler Bedeutung aber ist es für jene, die in der Gegenwart leben und darin Vergangenheit und Zukunft, Geschichte und Hoffnung, Kosmos und Gesellschaft, Verantwortung und Entscheidung, Himmel und Hölle konzentrieren.“ Und eben das war der Ansatzpunkt von Abel. „JuLab“ war entstanden, um demjenigen Lebensjahre und Jugend wiederzugeben, der dabei war oder zumindest glaubte, diese zu verlieren. Und zwar in erster Linie per Aufdeckung der standesamtlichen Registrierung als Illusion. Abel: „Es ist zu einfach, vom Alter der Personen auszugehen, als liefe die Uhr eines jeden synchron zu einer einzigen externen Amtsuhr, die Geschwindigkeit und Rhythmus bestimmt. In Wirklichkeit läuft die Uhr jedes Menschen autonom.“ „JuLab“ ermittelte durch Messungen die biologische Zeit der jeweiligen Besucher, was bei vielen zu der überraschenden Erkenntnis führte, dass sie gegenüber der angenommenen externen Uhr plötzlich fünf oder zehn Jahre jünger waren: ohne die Notwendigkeit des Liftens, um Falten zu entfernen, ohne Fett abzusaugen, die Nase zu verkürzen, den Busen zu straffen. Es handelte sich um tatsächlich wiedergewonnene Jahre, denn oft sind Wissen und Glauben das gleiche wie Sein. „Wenn du glaubst, jung zu sein, bist du jung; wenn du glaubst, alt zu sein, bist du alt“, urteilte Alexia. Und fügte als Beispiel hinzu: „Wenn es um den Besitz eines Kunstwerks geht, ist es reine Rhetorik zu fragen, ob es besser ist, ein echtes Werk zu besitzen, das alle für falsch halten, oder ein falsches, das alle für echt halten.“ Die Kontrolle führte „JuLab“ mit hochspezialisierten Instrumenten durch: Gemessen wurden Elastizität und Reproduktionsvitalität der Zellen, die elektrischen Ströme der motorischen wie der Nervensysteme, das psychische Gleichgewicht zwischen Wachen und Schlafen und natürlich die Harmonie zwischen den Gehirnlappen bzw. die Präsenz der Stille in der Sphäre des Lärms. War das tatsächliche Alter bestimmt, kümmerte sich das „Jugendlabor“ darum, die entsprechenden Anträge bei den Verwaltungsbeamten durchzusetzen; diese zögerten es stets hinaus, die Änderung in den Akten mit ihren Gebührenmarken und dem Amtssiegel im Namen von Gott und Volk zu bestätigen. Die zurückgegebenen Jahre wirkten sich auf Körper und Geist der solchermaßen Beschenkten positiv aus, ähnlich wie bei einem schwierigen Strafprozess mit der Aussicht auf jahrelange Haft und Zwangsarbeit, wenn sich plötzlich eine unerwartete Kehrtwendung ergibt und das Ganze mit einem Freispruch wegen erwiesener Unschuld oder aus Mangel an Beweisen endet. Die von „JuLab“ verkündete Begnadigung führte zu einer Explosion von zuvor unterdrückter Vitalität, von Gefühlsströmen, Fruchtbarkeit, Optimismus, poetischen und mystischen Ergüssen. Ein ganz anderer Effekt also als bei einer Schönheitsoperation, die womöglich Identitätskrisen und Schuldgefühle hervorruft, weil man die eigene Wahrheit vor den anderen verstecken will. Die Verjüngung durch „JuLab“ dagegen war ein befreiender Akt, die Vereinigung des Lebens mit der eigenen realen Zeit. Die wiedergewonnene Stille war Motor für Jugend, Liebe, Kommunikation, Toleranz. Gleichzeitig verlang-samte sich dadurch die eigene biologische Uhr auch hinsichtlich der künftigen, tatsächlichen oder anzunehmenden Jahre. Die Anrufung des Psalmisten (Ps. 90,12): „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz“, war das Motto, das Abel in Großbuchstaben über dem Eingang und im Logo des Labors wiedergegeben hatte. Im Kloster zwischen Himmel und Erde. Um das Programm zu überdenken, zog sich Abel für ein paar Tage in ein auf einen Felsen zwischen Himmel und Erde gekauertes Kloster zurück. Allerdings erschienen ihm dessen Bewohner verstrickt in die chronologische Zeit und ihre Geräusche, die sich mit dem Mythos der Modernität eingeschlichen hatten. Sie sprachen von Gott, aber mit den Parametern der Massenmedien, der Popularität für die Evangelisation, der statistischen Diagramme, des direkten Drahts zu Politikern und Mächtigen, der Einnahmen durch Hinterlassenschaften und Schenkungen, der Bewahrung der prachtvollen Bibliothek und der Kunstschätze. Die Leitung erfolgte nach den Kriterien der kaufmännischen Verwaltung, hierarchischer Funktionalität, selektiver Karriere, finanzieller Solidität. Aktiva ermöglichten es, den Armen einen Teil des Überflusses zu überlassen; Tafelfreuden kompensierten angeordnete Fastenzeiten und fleischliche Abstinenz. Werte und Ideale richteten sich überwiegend nach dem Verb haben; sogar die Berufung, die Tugenden, die Heiligkeit. Abel begriff, dass es den Mönchen an Stille und Jugend fehlte, am Verb sein. Er bat um ein Gespräch mit dem Prior für eine Zusammenarbeit, allerdings mit der Angst, nicht verstanden oder der Anmaßung und des Laizismus bezichtigt zu werden. Am Vorabend der Begegnung, in einer von Zikaden und Käuzen besuchten Nacht, hatte er einen von Träumen durchzogenen Traum. Er durchlebte Lebensabschnitte in surrealem Umfeld, aber in der Überzeugung, sie schon zig andere Male im selben Umfeld und mit denselben Personen durchlebt zu haben. Als sei das Geschehen jenes Traums die Folge des Geschehens vorhergehender Träume, Teil einer Serie. Ihm kam der Verdacht, der Eindruck der Wiederholung sei wie in einem klassischen Spiegelkabinett eine Illusion innerhalb ein und desselben Traums gewesen. Und immer noch träumend dachte er, diese Illusion müsse im sogenannten bewussten Leben genauso eintreten. Glauben wir doch morgens beim angeblichen Erwachen, die Welt und die Geschichte des Vortags wiederaufzunehmen; sie für die Dauer der Nacht unterbrochen zu haben. Wie im Traum verleiht sich das Bewusstsein dadurch Tiefe, dass es sich in eine nie stattgefundene Vergangenheit und in eine nie stattfindende Zukunft projiziert. Abel gewann die Überzeugung, einen einzigen Tag bewussten Lebens zu durchleben. Einen Tag, der logischerweise kein Gefäß, keine Flasche war, in die sich die nach und nach durchlaufenen Stunden und Minuten ergossen. „Aber kann denn das reale Leben wirklich so flach sein?“ fragte er sich und wand sich hektisch im Bett und im Alptraum. „Kann es möglich sein, dass das Haus und seine vertrauten Gegenstände, die Familie, die Freunde, die Tiere und Pflanzen, die Stadt, die Arbeit, die Ferien, die Karriere, das Geld, die Versicherungen, das Prestige, die Politik, die ehrenamtlichen Tätigkeiten, die Hobbys, die eigene Geschichte wie die der anderen – dass all das nur ein optischer Bildvervielfachungseffekt ist?“ „Klar kann das sein“, gab er sich im Traum zur Antwort. „Solange Vergangenheit und Zukunft die szenische Umsetzung der Gegenwart sind, wo allein sich die Schwere der Dinge konzentriert und das einzige Theater des Lebens aufgeführt wird. Die chronologische Zeit mit den eintönig wiederkehrenden Tagen wäre nur dann echt, wenn wir in diesem Theater bloße Komparsen, Zuschauer wären. Tatsache ist, dass gerade wir – jeder für sich – die Hauptdarsteller sind.“ Im Morgengrauen nahm Abel an der Choralmette der Mönche teil. Mit ihnen gemeinsam sang auch er den Psalm: „Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist. Sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sproßt. Das am Morgen blüht und sproßt und des Abends welkt und verdorrt.“ Abel dachte, dass seine Interpretation nicht chronologisch ausgerichtet war wie die der Mönche. Er war überzeugt davon, im einzigen soeben geborenen Tag zu leben, erhellt von den Strahlen der noch niedrig im Osten stehenden Sonne; und dass dieser Tag den Urknall, die fünfzehn Milliarden Jahre und die Apokalypse des Kosmos enthielte, das eigene Gestern und den Traum der Nacht, seine Entscheidung zu Sein oder Nicht-Sein. Er dachte auch, dass er den logischen Faden für das Gespräch mit dem Prior verloren habe. Das abgesagt wurde wegen des Besuchs von einem politischen Freund und Gönner, ein gläubiger Mensch, der nur zu gerne vor den Fernsehkameras von seinen Begünstigten gepriesen werden wollte. Das Wunder der Ameisen. Abel fuhr fort, „JuLab“ zu leiten, wandte sich aber wieder der Welt der Ameisen zu. Nicht länger aufgrund der krankhaften Verlockung durch Geräusche oder mit der Manie eines Spezialisten, der Haarspaltereien betreibt, ohne den Kopf, die Seele zu sehen. Anlass war eine Dankesschuld: Was wäre aus seinem Leben geworden ohne die Ameisen!? Als Erstes räumte er mit den unzähligen Vorurteilen auf. In der menschlichen Sprache steht Ameise für etwas Kleines, Unbedeutendes. Sicherlich ist es kein Kompliment, davon zu sprechen, der und der „hat die Größe einer Ameise“; Herr Meier „isst wie eine Ameise“; oder Herr Müller „trippelt wie eine Ameise“. Wenn jemand davon spricht, einen anderen „zu zerquetschen wie eine Ameise“, soll das die angebliche Überlegenheit des Menschen allein aus dem Grund beweisen, weil er sie um gerade mal mehr oder weniger 1,70 m überragt! Diese Anmaßung demontierte Abel per Verweis auf die Relativität des Physischen in jeder Hinsicht. „Wenn man diese Logik wirklich auf die Spitze treiben will, ist der Mensch der Verlierer!“ Im Vergleich – erläuterte er – unterliegt der Mensch, denn in seiner Welt ist das Individuum der Spezies überlegen und das menschliche Individuum ist, so wie es gebaut ist, zerbrechlich, allen Gebrechen, die wir kennen, ausgesetzt. Sein Leben ist kurz, das seiner Zivilisation auch; fast die Gesamtheit ruht bereits auf dem Friedhof der Geschichte. In der Welt der Ameisen dagegen ist gerade die Spezies das Subjekt. Und folglich sind die Ameisen von heute die aus der Vorzeit. Sie sind Millionen Jahre alt. Deshalb ist es nicht der Mensch, der die Ameise zerquetscht; eher ist es die unbeweglich am Flussufer verharrende Ameise, die unaufhörlich den Leichnam des Menschen vorbeiziehen sieht. „Der Mensch ist nicht Herr seines Planeten. Die wahren Herrscher sind, wenn überhaupt, die unsichtbaren Viren und Bakterien; und die Ameise, ohne Zweifel besser als der Mensch, ist das Bindeglied von Makro- und Mikrokosmos.“ Ein weiteres Vorurteil im Visier von Abel: die Ameise sei ein primitives Wesen. „Wahr ist das genaue Gegenteil. Ameisen haben eine martialischere Gestalt als die längst ausgestorbenen Dinosaurier und gleichzeitig eine funktionelle Eleganz, die als Vorbild dient für die futuristischen Modelle der Mechanik und der Spitzentechnologie, für die schnittige Linie der Formel 1. Die Ameisen verbinden Prähistorie und Zukunft!“ Die Menschen kommunizieren über Symbole und konventionelle Zeichen und entwickeln sich durch die Übermittlung einer sektorialen Kultur für wenige, deren Großteil wie ein Fluss in einer Sandwüste versickert. Wie viele Kulturen sind untergegangen und heute unverständlich! Für Abel dagegen „kommunizieren und übertragen die Ameisen alles mit der Exaktheit ihrer Chemie und DNA. Nichts geht verloren. In den Ameisen von heute konzentriert sich jedes Körnchen der gemeinsamen Vergangenheit und ist aktiv.“ Alexia betonte die sozialeren Aspekte: „Die Ameisen verbinden ihren individuellen Verstand und Fleiß mit dem Allgemeinwohl. Sie vermeiden Ränkespiele, wozu sie durchaus imstande wären. Sie sagen und tun die Wahrheit. Wenn sie Fehler begehen, erkennen sie das selbst und tragen spontan die Folgen. Ohne ihre Kraft mit der Rhetorik von Anwälten und Gerichten zu vergeuden. Rechtsprechung ist keine Rache. Sie ist etwas ganz Selbstverständliches.“ Es war Alexias Aufgabe, die zu untersuchenden Ameisen auf dem Land aufzuspüren und herbeizuholen. Unerfahren wie sie war, brachte sie sie anfangs übel zugerichtet, benommen, ja sogar blutend mit nach Hause. Dann begann sie, sich vorher die Nägel zu schneiden, und packte die Tierchen mit weichen Fingerspitzen vorsichtig am Thorax. Nach erfolgter Analyse und Beschreibung legte sie sie genau an die Stelle zurück, wo sie sie eingesammelt hatte, und belohnte sie mit einem Klecks Honig, einem Klacks Hackfleisch oder einem Apfelstrunk, je nach Geschmack. Und mit der neuen Beute nahmen sie ihre unterbrochene Arbeit und ihre dank eines extrem feinen Seh- und Geruchsvermögens memorisierten Wege wieder auf. Abel erlaubte sich den Luxus, sich einige Myrmicinae aus China, ein paar Ponerinae aus Australien und drei Amazonenameisen einfliegen zu lassen; letztere hatten die seltsame Angewohnheit, Puppen anderer Stämme zu rauben, um sie später als Sklaven für sich selbst einzusetzen. Versehen mit den Annehmlichkeiten der ersten Klasse reisten sie in einem künstlichen Bau per Flugzeug an und wurden nach abgeschlossener Analyse wieder zurückgeflogen. Nie kam es Abel in den Sinn, um die Flugkosten zu sparen, sie bei sich auszusetzen. Er hielt es für unverantwortlich, ihnen die Unbilden eines anderen Klimas und einer ihnen fremden Umgebung aufzuerlegen. Die Pharaoameisen, deren natürliches Umfeld das tropische Asien war, suchten im Norden die Wärme von Großküchen, Firmenmensen und Krankenhäusern, wo sie hemmungslos am Wundblut von Patienten leckten. „Aber ist das etwa ihre Schuld? Schließlich waren es die Touristen, die sie hierher geholt haben – womöglich aufgrund einer vorübergehenden Laune nach Exotischem.“ Forschung und Beobachtungen von Abel und Alexia erlaubten ihnen auch künstlerische Neigungen. Stundenlang betrachteten sie bei jedem Exemplar den riesigen, glänzenden Kopf mit den Intarsienaugen, die segmentierten multifunktionalen Antennen, den gebogenen Oberkiefer, den schlanken Brustpanzer, den gestreiften Hinterleib, den Magen, wo sie das von Mund zu Mund weiterzureichende Essen lagern, die Stielkörper, Sitz des Gedächtnisses, die Flimmerhärchen. „Die Zoologen nehmen an, unsere Ameisen sind das Ergebnis der phylogenetischen Vereinigung von Eintagswespen und einer Unterart der Tifiden. Für uns sind sie nur ein Wunder der Natur, der Gipfel der Herrlichkeit des Seins“, so mit gebrochener Stimme ihr Kommentar. Die Menschen leben nur auf der flachen Oberfläche der Erde. Die Ameisen dagegen, gierig nach Sonne, speichern sie und nehmen sie mit bis in die innerste Erdschicht, jenem anderen Ursprungsfeuer entgegen. Lange bevor sich Dante hier die Hölle ausmalte, gab es dort unten schon vor Millionen Jahren Ameisen, die Himmel und Erde miteinander verbanden. Abel und Alexia nahmen sich vor, einigen von ihnen in einen ungewöhnlichen Bau zu folgen, der unter einer auch von Touristen vergessenen historischen Ruine lag. Am Eingang hörten sie seit längerem mysteriöse Rufe ab und vermerkten beunruhigende Geschehnisse. Mario Tamponi